Das Landgericht Tübingen hebt einen sogenannten „111 a-Beschluss“ über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis in der Beschwerde auf

Beschluss des Landgerichts Tübingen vom 25.02.2021 – Az.: 9 Qs 38/21

Das Landgericht Tübingen hat am 25.02.2021 einen Beschluss des Amtsgerichts Rottenburg vom 08.01.2021 über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eines Unfallverursachers nach einem Auffahrunfall im Beschwerdeverfahren aufgehoben.

Am 08.01.2021 erließ das Amtsgericht Rottenburg a.N. gegen den Pkw-Fahrer einen Strafbefehl, in welchem ihm zur Last gelegt wurde, auf der Autobahn A 81 ein Fahrzeug geführt zu haben, obwohl er infolge von Übermüdung nicht in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen, strafbar als Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB. Parallel erließ das Amtsgericht einen Beschluss, wonach dem Beschwerdeführer gemäß § 111 a StPO die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen wird; in den Gründen wurde auf den erlassenen Strafbefehl Bezug genommen.

Der gegen diesen Beschluss eingelegten Beschwerde hat das Amtsgericht nicht abgeholfen. Das Landgericht Tübingen hat durch Beschluss vom 25.02.2021 die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben, weil kein dringender Tatverdacht besteht, der die vorläufige Entziehung rechtfertigt. Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen erscheint es dem Landgericht zwar als möglich, dass der Pkw-Lenker den Verkehrsunfall auf der Autobahn dadurch herbeigeführt hat, weil er infolge der Übermüdung nicht mehr in der Lage war, den von ihm gesteuerten Pkw sicher zu führen und deshalb auf den Vorausfahrenden aufgefahren ist. Allerdings ist dieser Schluss für die Kammer keineswegs zwingend. Nach den bisherigen Ermittlungen wurden keine Feststellungen zum Übermüdungszustand, welche die erkennbare Erwartung eines nahenden Sekundenschlafes mit sich bringt, getroffen. Allein die Äußerung unmittelbar nach dem Aufprall „psychisch komplett fertig zu sein“ und der festgestellte Unfallhergang – das Auffahren liege nicht außerhalb jeglicher Lebenserfahrung für eine andere Unfallursache – reichen für einen dringenden Tatverdacht nicht. Hinzu kommt, dass die Übermüdung vom Pkw-Lenker am Unfallort nicht thematisiert wurde.

Die Entscheidung über den Entzug der Fahrerlaubnis wird der Hauptverhandlung und dem darin festgestellten Ergebnis vorbehalten bleiben müssen.

Das Landgericht Tübingen und das OLG Stuttgart tragen der geänderten Rechtsprechung des für das Werkvertragsrecht zuständigen VII. Zivilsenats des BGH zur fiktiven Schadensberechnung für Werkverträge Rechnung.

Urteil des Landgerichts Tübingen vom 17.07.2020 – Az.: 2 O 429/18 –
bestätigt durch den Beschluss des OLG Stuttgart vom 01.02.2021 – Az.: 3 U 286/20 –

Das Landgericht Tübingen hat am 17.07.2020 der Klage einer Zimmerei auf Rückzahlung eines Vorschusses für die Aufwendung zur Mängelbeseitigung stattgegeben.
Die Bauherrin hatte die Zimmerei im Jahr 2010 damit beauftragt, den Dachboden ihres Gebäudes mit Dekorpaneelen zu verkleiden. In der Folgezeit traten Mängel auf. In einem beim Landgericht Tübingen im Jahr 2014 geführten Rechtsstreit auf Vorschuss für Mängelbeseitigungskosten stellte der vom Gericht beauftragte Sachverständige fest, dass die Paneelen infolge einer ungeeigneten Unterkonstruktion Durchbiegungen und Unebenheiten aufwiesen. Aus diesem Grund wurde die Zimmerei verurteilt, einen Vorschuss für die Kosten zur Mängelbeseitigung gemäß § 637 Abs. 3 BGB von fast 15.000,00 € zu bezahlen.
Die Bauherrin ließ die Mängel nach Zahlung des Vorschusses nicht beseitigen.

In der grundlegenden Entscheidung vom 22.02.2018 – Az.: VII ZR 46/17 – hat der für das Werkvertragsrecht zuständig VII. Zivilsenat des BGH seine langjährige Rechtsprechungspraxis zur Zulässigkeit der fiktiven Schadensberechnung im Rahmen des Schadensersatzes anstatt der Leistung geändert. Der BGH führt aus, dass ein Besteller, der keine Aufwendungen zur Mängelbeseitigung tätigt, sondern diese nur fiktiv ermittelt, auch keinen Vermögensschaden in Form und Höhe dieser (nur fiktiven) Aufwendungen hat. Erst wenn der Mangel beseitigt und die Kosten dafür beglichen werden, entsteht dem Besteller ein Vermögensschaden.
Die Bauherrin wurde zunächst 2017 und zuletzt im Jahr 2018 unter Fristsetzung zur Abrechnung des Vorschusses aufgefordert. Die Aufforderungen blieben erfolglos. Die im Dezember 2018 – vor Ablauf der 3-jährigen Verjährungsfrist – erhobene Klage beim Landgericht Tübingen auf Rückzahlung des auf die Kosten der Mängelbeseitigung geleisteten Vorschusses war erfolgreich, weil die Bauherrin die Mängelbeseitigung nicht binnen angemessener Frist durchgeführt hat.
Das OLG Stuttgart hat das Urteil des Landgerichts im Berufungsverfahren bestätigt. Es sieht die angemessene Frist zur endgültigen Abrechnung der zur Verfügung gestellten Mittel als längst abgelaufen an, weil im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in I. Instanz mehr als vier Jahre nach Zahlung des Vorschusses verstrichen waren. Die Bauherrin kann ihren „Schaden“ auch nicht auf eine Differenz zwischen dem hypothetischen Wert der in ihrem Eigentum stehenden Immobilie ohne Mangel und dem tatsächlichen Wert der Immobilie mit Mangel stützen. Eine solche Wertdifferenz gibt es nach den Feststellungen des Sachverständigen gerade nicht.
Die Bauherrin muss, weil sie die Mangelbehebung nicht durchgeführt hat, den erstrittenen Vorschuss zurückzahlen.

Fehlende Bestimmtheit der Anklageschrift stellt ein Verfahrenshindernis dar

Beschluss des OLG Stuttgart vom 07.01.2021 – Az.: 2 Rv 16 Ss 914/20 –

Das OLG Stuttgart hat am 07.01.2021 ein Urteil des Amtsgerichts Horb a.N. vom 11.08.2020 mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben und das Verfahren eingestellt, weil es an einer wirksamen Anklageschrift und damit an einer Prozessvoraussetzung gefehlt hat.

Am 11.08.2020 hatte das Amtsgericht den Angeklagten wegen eines Umweltdelikts im Sinne des § 327 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt.
Dem Verfahren lag eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 05.06.2020 zugrunde, welche den Anforderungen an die Umgrenzungsfunktion im Hinblick auf die Tatzeit nicht genügt hat und deshalb unwirksam war.
Dem Angeklagten wurde folgendes vorgeworfen: „Seit einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt, vermutlich seit 2014 oder 2015, betreiben Sie auf Ihrem Grundstück in der …… Straße in ……… ohne Genehmigung eine genehmigungsbedürftige Anlage, weshalb gegen Sie bereits ein Strafbefehl des Amtsgerichts Horb vom 28.03.2017, rechtskräftig seit dem 12.04.2017, erging. In Kenntnis dieses Strafbefehls lagerten Sie dennoch weiterhin auch noch nach dem 24.06.2016, wie dies anlässlich der Durchsuchung am 08.08.2019 festgestellt wurde, … weitere Gegenstände … ab.“

Bis zum Erlass des ersten Strafbefehls des Amtsgerichts Horb am 28.03.2017 war Strafklageverbrauch eingetreten und die Tatzeit war in der Anklageschrift nicht hinreichend konkretisiert. Damit litt die Anklageschrift an einem nicht behebbaren funktionellen Mangel und war deshalb unwirksam.

Beachte: Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung von Verfahrenshindernissen durch das Gericht setzt stets voraus, dass die Revision zulässig, dh. ordnungsgemäß eingelegt und begründet ist. Nur ein zulässiges und wirksam angebrachtes Rechtsmittel verleiht dem übergeordneten Gericht die Befugnis und die Möglichkeit, das angefochtene Urteil zu überprüfen und in seinen Bestand einzugreifen.

Erstattung von Sachverständigenkosten aus abgetretenem Recht des Geschädigten und „verschwiegener Vorschaden“

Urteil Amtsgericht Hechingen vom 05.09.2018 – Az: 6 C 202/17

Das Amtsgericht Hechingen am 05.09.2018 die Klage einer Sachverständigen-GmbH aus abgetretenem Recht des Anspruchstellers wegen Verschweigen eines Vorschadens abgewiesen.
Der Geschädigte hatte die Sachverständigen-GmbH mit der Erstellung eines Gutachtens zu den Unfallschäden nach einem Heckaufprall an seinem Pkw beauftragt. Der Unfallhergang und die Einstandspflicht der Haftpflichtversicherung zu 100 % war unstreitig.

Da die Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert um mehr als Doppelte überstiegen hatte, lag ein Totalschaden vor. Die Sachverständigen-GmbH hatte den Wiederbeschaffungswert
mit 2.500,00 € ermittelt.

Die Haftpflichtversicherung konnte einen Schaden an der Seitenwand hinten links nicht dem Unfallereignis aus dem Heckaufprall zuordnen. Sie beauftragte einen eigenen Sachverständigen
mit der Nachbesichtigung. Dieser stellte fest, dass es sich um einen unreparierten Vorschaden handelt. Er ermittelte deshalb den Wiederbeschaffungswert auf 2.300,00 €. Die Haftpflichtversicherung weigerte sich, wegen dem verschwiegenen Vorschaden, die Gebühren der Sachverständigen-GmbH zu bezahlen.

Das Amtsgericht Hechingen gab der Haftpflichtversicherung Recht. Es stellte zunächst fest, dass der Geschädigte bei einem Verkehrsunfall Anspruch auf die Kosten hat, die zur Wiederherstellung des Zustands vor dem Unfallereignis erforderlich sind. Hierzu gehören auch die Kosten eines Privatgutachtens.
Dieser Anspruch entfällt allerdings, wenn das erstattete Gutachten auf Grund der fehlenden Angaben zu dem Vorschaden unbrauchbar ist. Hat der Geschädigte den Gutachter unzutreffend über Vorschäden unterrichtet, muss der Schädiger die Kosten für ein unbrauchbares Gutachten nicht tragen.
Im Prozess hatte die Sachverständigen GmbH vorgetragen, dass ihre ausdrückliche Frage nach etwaigen Vorschäden vom Geschädigten verneint worden sei. Damit stand zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Geschädigte die Gutachter-GmbH nicht zutreffend über den Vorschaden informiert hatte und das Gutachten deshalb objektiv unbrauchbar war.

Alleinhaftung des Unfallverursachers trotz Überschreiten der Autobahnrichtgeschwindigkeit durch den Geschädigten

Urteil des Amtsgerichts Oberndorf a.N. vom 15.08.2018, Az.: 4 C 122/17

Das Amtsgericht Oberndorf hat bei einem Verkehrsunfall auf der Bundesautobahn A 81 zwischen einem, auf der linken Spur fahrenden und die Richtgeschwindigkeit überschreitenden, Pkw mit einem Spurwechsler einen Schadenersatzanspruch von 100 % der geltend gemachten Ansprüche zuerkannt.

Der Kläger war mit seinem Pkw auf der linken Spur der Autobahn A 81 zur Mittagszeit mit – vom Sachverständigen festgestellten – 130 bis 150 km/h unterwegs, als ein auf der rechten Fahrspur fahrendes Wohnmobil auf die linke Fahrspur wechselte.
Um einen seitlichen Aufprall zu vermeiden, war der Kläger so weit nach links zur Mittelleitplanke hin ausgewichen, dass er an dieser entlang streifte. Zu einer Berührung zwischen dem Fahrspurwechsler und dem klägerischen Fahrzeug war es nicht gekommen.

In der Rechtsprechung wird bei Konstellationen, in denen ein Fahrzeug auf der Autobahn auf die Überholspur wechselt, auf welches ein anderes Fahrzeug mit einer höheren Geschwindigkeit als die Richtgeschwindigkeit auffährt, in der Regel eine Mithaftung des Auffahrenden in Höhe der normalen Betriebsgefahr angenommen.
Ein Mitverschulden hat das Gericht in diesem Fall abgelehnt, weil der Fahrspurwechsler den beabsichtigten Fahrstreifenwechsel nicht erkennen und damit reagieren konnte. Die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs tritt – nach Auffassung des Amtsgerichts Oberndorf – trotz der nicht eingehaltenen Richtgeschwindigkeit, hinter dem groben Verstoß aus dem sorgfaltswidrigen Fahrspurwechsel des Wohnmobils gemäss § 7 Abs. 5 StVO zurück.